Wir brauchen eine andere Perspektive im Leben

“Wir sind im Frühjahr 2020 in der Selbsthilfegruppe gewesen. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir gerade eine sehr frühe Fehlgeburt nach unserer zweiten künstlichen Befruchtung hinter uns und waren entsprechend verzweifelt.


Unser Weg des unerfüllten Kinderwunsches begann vermutlich so wie bei vielen Paaren. Erst versucht man es viele Monate und bleibt relativ ruhig, da im ersten Jahr ja erstmal alles im Rahmen ist. Dann wird man irgendwann unruhiger und das Thema nimmt immer größeren Raum in den Köpfen und im Leben ein und beeinträchtigt die Lebensqualität und -freude stark. So haben wir uns auch irgendwann auf medizinische Ursachenforschung begeben. Es konnte allerdings nichts festgestellt werden. Medizinisch war alles top und auch das Alter konnte kein Grund sein. Warum wollte es dann einfach nicht funktionieren, wenn doch rechts und links von einem gefühlt nur Kinder zur Welt kamen?
Nach ca. 2 Jahren sind wir in eine Kinderwunschklinik gegangen. Es war eine sehr große. Trotzdem haben wir uns zu dem Zeitpunkt gut beraten und betreut gefühlt. Für uns war klar, wenn wir den (für uns schon nicht einfachen) Weg der künstlichen Befruchtung gehen, dann wird es auf jeden Fall in einem Versuch klappen. So wurde es uns auch suggeriert. Der erste Versuch einer IVF endete allerdings damit, dass keine Eizelle befruchtet werden konnte. Der erste Schock. Kurze Zeit später versuchten wir es mit einer ICSI, die vielversprechender sein sollte. Auch hier war die Befruchtungsrate extrem gering aber nach einigen bangen Tagen konnte eine Eizelle transferiert werden, welche sich sogar einnistete, sich allerdings nach wenigen Wochen nicht mehr weiter entwickelte.
Das zog uns abermals den Boden unter den Füßen weg. Für uns war klar, wir mussten Wege aus diesem tiefen Tal finden. So kamen wir u.a. in die Selbsthilfegruppe und haben uns weitere Hilfe gesucht.
Die Selbsthilfegruppe hat uns insbesondere geholfen, dass wir uns nicht mehr so alleine mit unserem Schicksal fühlten.
Einige Monate später haben wir einen weiteren Versuch der ICSI gestartet, welcher jedoch ebenfalls nicht erfolgreich war. Auch wenn wir schon viele Monate und Jahre sehr tief am Boden waren, hat uns diese Erfahrung gänzlich runter gerissen. Wir konnten einfach nicht mehr.

Für uns war nach einiger Zeit klar, so geht es nicht weiter. Wir brauchen eine andere Perspektive im Leben und können uns nicht mehr von ICSI zu ICSI hangeln, weil es (im Internet) zig Beispiele gibt von Paaren, bei denen es nach der 4., 5., oder 6. ICSI geklappt hat und ja bei uns vielleicht auch?

So haben wir nach Jahren einen sehr schönen Urlaub verbracht und dort Dinge gemacht, die uns gut taten und die uns gezeigt haben, dass man auch ohne Kinder Lebensqualität erleben kann. Wir konnten die Verbissenheit in den Köpfen, diese täglich quälenden Fragen des “Warums” und der Traurigkeit überwiegend ablegen und haben uns auf die Suche nach anderen Lebensinhalten gemacht.

Wir haben uns auf den Weg gemacht zu akzeptieren, dass wir vermutlich ohne ein Wunder keine leiblichen Kinder bekommen werden und somit unser Leben anders planen müssen.

Unter anderem haben wir uns in ein Adoptionsprogramm aufnehmen lassen, um für uns eine Entscheidung treffen zu können, ob das ein Weg sein könnte oder nicht, uns ein kleines Hündchen angeschafft und einen Camper, in der Vorstellung, dass wir unsere ungewollte Freiheit damit gut ausleben können.

Natürlich war die Traurigkeit damit nicht gänzlich weg und brach auch immer wieder durch aber diese tägliche, bleiernde Schwere konnten wir hinter uns lassen.

Ja und was soll ich sagen? Einige Monate später ist unser Wunder passiert und ich bin schwanger geworden. Nach vielen Monaten der Verunsicherung, ob das wirklich so kommen wird, ob es nicht doch noch zu einer Fehlgeburt kommt usw. werden wir ganz bald Eltern und können unser Glück immer noch kaum fassen.

Wir finden es schwierig Tipps zu geben, da jedes Paar für sich einen Weg und einen Umgang finden muss und es auch sehr individuell sein kann, woran es hapert und was man (finanziell und psychisch) schafft und was nicht.

Das was für uns rückwirkend wichtig war, an einem Punkt zu erkennen, so geht es nicht weiter, wir müssen etwas ändern, wir schaffen die psychische Belastung – auch der Versuche der künstlichen Befruchtung – nicht mehr.
Auch ist uns erst im Nachgang klar geworden, dass es keineswegs so ist, dass die Erfolgsaussichten in Kinderwunschkliniken so rosig sind, wie es suggeriert wird. Natürlich wird Paaren dadurch ihr Kinderwunsch ermöglicht. Nach unseren heutigen Wissen ist dies jedoch die Minderheit. Das heißt nicht, dass wir gegen diese Kliniken sind oder es bereuen, es dort versucht zu haben. Wir hätten nur gerne im Vorfeld eine realistischere Einschätzung der Erfolgsaussichten gehabt, damit der Fall auf den Boden für uns nicht ganz so hart gewesen wäre.

Uns hat das Lesen der Erfahrungsberichte auf dieser Seite sehr geholfen und das Wissen durch die Selbsthilfegruppe, man ist nicht alleine.

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern alles Gute auf ihrem Weg und hoffen, mit unserem Erfahrungsbericht auch etwas Mut machen zu können.”

J., 35, aus Bonn, im November 2021